Siedlungswut
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In Falkensee gibt es eine Initiative "Schönes Falkensee"


Nirgendwo in Europa werden Feld, Wald und Wiesen so schnell zubetoniert wie in Deutschland. Die Siedlungswut ist eine Folge falscher Politik. Schuld trägt auch die umstrittene Eigenheimzulage.

Falkensee glüht. Die Berliner Vorstadt ist vom Wüstenrot-Fieber befallen. Überall neue Eigenheime: Doppelhaushälften mit Garage, Reihenhäuser mit eigenem Parkplatz, Schwedenhütten mit blau lasierten Ziegeln, säulenbewehrte Domizile in Dallas-Optik und Fachwerkimitate an weißer Kiesauffahrt. An den Straßen Richtung Berlin zeigen Musterhäuser von Fertigbaufirmen, wie der Traum von den eigenen vier Wänden aussehen könnte. Vor zehn Jahren lebten hier 13.000 Menschen, heute sind es 38.000. Bauland gibt es in Falkensee zu Spottpreisen ab 60 Euro pro Quadratmeter - damit immer mehr Menschen kommen. Sie sollen das Stadtsäckel füllen: Von ihrer Einkommensteuer fließen 15 Prozent an die Kommune, der Rest geht je zur Hälfte an den Bund und das Land Brandenburg. "50.000 Falkenseer, das ist unser Ziel", sagt Bürgermeister Jürgen Bigalke.

Doch der 62-jährige SPD-Mann, zu DDR-Zeiten Baudezernent, weiß auch: Die Rechnung geht nicht auf. Mehr Einwohner heißt auch mehr Ausgaben. Seit der Wende mussten schon drei neue Grundschulen, ein Gymnasium und drei Kindertagesstätten her. Fast jede zweite Gemeindestraße ist noch unbefestigt. Viele Einwohner leiten ihre Abwässer seit Jahren in Sickergruben, und gegen die geplante Ortsumgehung hat sich die Bürgerinitiative "Schönes Falkensee" gegründet.

An einer der Sandstraßen wohnt Ferdinand Lubberichs mit Frau Petra und Sohn Dario, 9. Nach 17 Jahren Dauerverkehrslärm haben sie ihre Berliner Stadtwohnung aufgegeben und sind in ein Doppelhaus gezogen, das sie mit Freunden auf einem 2000-Quadratmeter-Grundstück gebaut haben. "Das hat sich in jeglicher Hinsicht gerechnet - vor allem mental", sagt der 46-Jährige. Leichte Zweifel quälen den Architekten allerdings trotzdem: "Gut ist der hohe Flächenverbrauch sicher nicht, aber man tut es trotzdem. Das ist wie mit dem Rauchen."

Bau-Boom in Deutschland

Siedlungswut betoniert in Deutschland die Landschaften, jeden Tag fällt die Fläche von 150 Fußballfeldern neuen Siedlungen und Straßen zum Opfer.

Havelland ist überall: Unaufhörlich rollen die Planierraupen durch die Republik. Sie glätten und verdichten, was die Bebauungspläne der Gemeinden von Aachen bis Zwickau hergeben. Jede Sekunde fallen durchschnittlich 12,5 Quadratmeter Ackerland neuen Siedlungs- und Verkehrsflächen zum Opfer. An jedem Tag ist das die Fläche von 150 Fußballfeldern. Trotz der schlechten Wirtschaftslage stieg die Zahl der Baugenehmigungen für Eigenheime im vergangenen Jahr um 13 Prozent auf rund 155.500. Die Bausparkassen melden auch für 2004 einen Boom bei Neuverträgen. Statistisch betrachtet wird irgendwo in Deutschland alle vier Minuten ein Einfamilienhaus auf durchschnittlich 732 Quadratmetern Grund fertiggestellt. Laut Umweltbundesamt muss die öffentliche Hand für die Folgen des Baubooms bis zu 30 Milliarden Euro im Jahr aufbringen. Das Geld geht drauf für Infrastruktur, neue Straßen oder Hochwasserschutz.

Staatliche Subventionen beschleunigen den teuren Wildwuchs noch. Wichtigster Faktor: die Eigenheimzulage. 81 Prozent der Bauherren bekommen sie ausgezahlt. Pro Neubau sind das für eine vierköpfige Familie maximal 22.800 Euro. Insgesamt gut zehn Milliarden Euro lässt sich der Staat die Förderung jährlich kosten. Vor gut zwei Wochen entschied der Bundestag zwar, die Prämie zu streichen, doch Ende November wird der unionsbeherrschte Bundesrat die Abschaffung aller Voraussicht nach wieder kassieren. CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Boss Edmund Stoiber senken den Daumen: Zu wichtig ist ihnen die Klientel der Häuslebauer. Die Eigenheimzulage ist nicht der einzige Grund für die sorglose Landnahme. Alle Berufspendler können zudem eine Entfernungspauschale absetzen: 30 Cent pro Kilometer Weg zur Arbeit versüßen die lange Fahrt aus dem Vorort. Sechs Milliarden Euro kostet das pro Jahr.

Die Sehnsucht vieler Deutscher nach einem Häuschen im Grünen zu befördern ist der Politik von jeher eine Menge wert gewesen. Über die Kehrseite, den ständig wachsenden Landschaftsverbrauch, wird weniger gern geredet. Eine der Folgen: Stadt und Land führen einen heftigen Kampf um Köpfe - Wismar gegen Nordwestmecklenburg, Duisburg gegen Kleve, Baden-Baden gegen Rastatt, München gegen Freising. "Wir sind auf kommunaler Ebene im 30-jährigen Krieg", sagt Gertrude Penn-Bressel vom Umweltbundesamt. Jeder gegen jeden - die Kosten trägt der Steuerzahler.

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