Bergisches Land
Einige Bemerkungen zur Geschichte der Bundesstraße 51
im Bergischen Land
Für den etwas irreführenden Titel dieser Abhandlung bitte ich um
Vergebung. Den Namen Bundesstraße 51 führt die Straße schließlich erst in
bundesrepublikanischer Zeit, also schlanke sechs bis sieben Jahrhunderte nach
dem hier behandelten Zeitabschnitt. Mich haben die Wurzeln der Straße in der
Tiefe der Vergangenheit interessiert, das frühzeitige, noch kaum erhellte
Werden unserer Heimatregion, nicht ihr gegenwärtiges, sich von Zeit zu Zeit
wandelndes Antlitz.
Warum schreibt man die Geschichte einer Straße ? Ist eine Straße nicht
eine Fläche, ein „toter“ Gegenstand, Menschenwerk und wie alles Menschenwerk
vergänglich ? Ist andererseits eine Straße eine Art Lebewesen, selbständigen Charakter
gewinnend dadurch, daß sie gleichsam die Tätigkeit der sie nutzenden Menschen
widerspiegelt ? Die Historie der Straße kann sich daher nur mit der Geschichte
dieser Menschen befassen; die Straße selbst bildet da zunächst eine Art
Vorwand, ein Band, das in seiner baulichen Existenz dann doch auch ein
historisches Monument darstellt, allein schon aus diesem Grund berichtenswert.
Jedoch darf auch nicht übersehen werden, daß sich die Straße wortwörtlich
entwickelt hat wie ein Band, abrollend und verknüpfend, Voraussetzung und
Ergebnis von Mobilität. Die Entwicklung spiegelt wider die Bevölkerungsdynamik
der anrainenden Siedlungen und Landschaften und den Austausch zwischen den in
ständigem Werden begriffenen Dörfern, Kirchorten, Burgen und Städten, die sich
nach und nach und unter mancherlei Hemmnissen mit menschlichem Leben
füllten - und auch wieder verlassen wurden, „wüst fielen“ wie z.B. der
Wüstenhof, dessen Name von seinem zeitweiligen Schicksal kündet.
So banal es klingen mag : Menschliches Wirken ist Handel und Wandel. Wenn
Menschen handeln und wandeln, so hinterlassen sie Spuren. Aus Spuren werden
Pfade, aus Wegen werden Straßen.
Die Geschichte der Stadt Wermelskirchen ist bis in die Neuzeit hinein
nicht von der historischen Entwicklung der Region Berg bzw. Bergisches Land zu
trennen. All zu nah, um nicht gut bergisch zu artikulieren „altena“ sind Mund
und Magen, Herz und Seele, Gehirn und Glieder der altbergischen Herrschaft der
Namenspatrone. Kaum eine Wegstunde trennt Schloß Burg und Dabringhausen von der
Eich, zum Fronhof der Altenberger Mönche in Solingen mag es doppelt so weit
sein, ebenso nach Lennep und in die Siepen um den Holscheidsberg. Vier Stunden
braucht es nach Altenberg für einen rüstigen Fußgänger und einen Tagesmarsch
nach Köln; ein Reiter mag schneller sein, ein Ochsenkarren langsamer.
Doch da alle Ochsen und Arbeitspferde mal Pause machen müssen,
gleichgültig ob sie auf zwei oder vier Beinen herumlaufen, haben sich viele
Gaststätten, Rasthäuser und Hotels entlang der alten Heerstraße aufgetan, die Wermelskirchen sein unverwechselbares Gesicht gegeben hat
und um die sich viele Legenden ranken : Schon Varus sei ihrem Verlauf auf
seinem Weg zum Teutoburger Wald gefolgt, so wie die Nibelungen hier entlang
nach Dortmund gezogen sein sollen, um dort ihr „roemrikes“ Ende zu finden. Für
beides sprechen gute Gründe. Aber war das eine Straße in dem Sinn, wie wir
heute davon sprechen, also eine preußisch gepflasterte und später bituminierte,
von Alleebäumen gesäumte Kunststraße ? Varus hatte im kaum erforschten
Feindesland anderes im Sinn, als auf seinem Vormarsch Pflasterarbeiten durchführen
zu lassen, wozu es gewisser logistischer Voraussetzungen bedarf. Und auch
Gunter, Gernot und Giselher werden Spähtrupps durch ziemlich wegelosen Urwald
vorausgeschickt haben, um geeignete Nachtquartiere zu erkunden, und sich eher
weniger um die Instandsetzung einer noch gar nicht existenten Trasse gekümmert
haben. Da mag ihnen auf ihrem Trampelpfad die Quellmulde im Hüpptal als Lager
günstig erschienen sein; Beweise dafür gibt es nicht. Im Dunkel der Geschichte
liegt der Beginn des Verkehres auf der heutigen B 51.
Wenn während der gesamten römischen Besatzungszeit im Linksrheinischen
von Zügen der Römer gegen „Germanen“ und ihre rechtsrheinischen Siedlungen gemeldet
wird sowie umgekehrt von Überfällen und Siedlungsbewegungen dieser späterhin
unter dem Sammelbegriff „Franken“ zusammengefaßten östlichen „Anrheiner“, so
müssen diese „Reisetätigkeiten“ in keinem Zusammenhang stehen mit unserer B 51.
Die wenigen und unsicher datierten Funde, die der Straße ein höheres als ein
frühmittelalterliches Alter bescheinigen könnten, geben in ihrer Dürftigkeit
doch eher einen Eindruck von Siedlungsleere, Unwirtlichkeit und Unwegsamkeit,
von seltenen Gelegenheitsbesuchen durch Jäger oder Späher abgesehen : hier eine
verlorene römische Münze, dort eine zerbrochene Franziska (fränkische
Streitaxt); hier eine Scherbe merowingischen Steingutes, dort eine
Schlackenhalde und Funde aus karolingischer Zeit.
Seit der Mitte des 6. Jh. sind Kämpfe zwischen Franken und Saxen bekannt,
woraus man schließen kann, daß in dieser Spätphase der Völkerwanderung beide
Völkerschaften expansiv in Bewegung waren, expansiv weniger im erobernd –
räuberischen Sinn, sondern mehr im Sinn einer friedlichen Ausbreitung des
Menschengeschlechts, Spiegelbild eines anhaltend starken Bevölkerungswachstums,
das sich zeitgleich so ähnlich wie im Rheinisch – Bergischen Raum in ganz Europa und darüber hinaus vollzog.
Beispielhaft sei das Vordringen der Araber in Spanien bis hin nach
Mittelfrankreich genannt, eine Tatsache, die auf zahlreiche bewaffnete und
vermutlich nicht generell unterernährte Streitkräfte schließen läßt. Doch merke
: Hunger ist auch ein General, und nicht der schlechteste !
Wenn die bei Hückeswagen aufgefundenen Scherben fränkisch –
karolingischer grauer Kugeltöpfe, in Gebrauch während der gesamten zweiten
Hälfte des ersten Jahrtausends, sozusagen abgelöst werden von Pingsdorfer Ware,
in Gebrauch von etwa 850 bis 1200, so ist dies ein präzisierungsbedürftiger
Hinweis darauf, daß diese Beifunde den früh- und hochmittelalterlichen Rennöfen
und Schlackenhalden den Charakter von Kulturbegleitern geben, wie es insgesamt
nicht vorstellbar ist, daß die frühesten Siedler im Bergischen Land keinen
Bedarf an Waffen und Werkzeug gehabt haben könnten; denn das Roden und Ackern,
das Bauen, Jagd und Kriegführung bedürfen dieser Geräte, erst recht angesichts
des angesprochenen Bevölkerungswachstums, und der Supermarkt fand weit weg und
nur selten im Jahr in Köln statt. Ebenso kann der Gedanke keinen rechten
Gefallen finden, die stattliche Zahl von Ringwällen im Bergischen Land, 27
allein im Rheinisch-Bergischen Kreis, im nördlich angrenzenden Wupperbogen und
seiner näheren Umgebung weitere 16, sei errichtet worden ohne geeignetes Gerät
und nur mit den Fingern und einem Grabstock, wie immer diese Burgen und Gehege
im einzelnen zu datieren sind. Jedenfalls haben auch sie das Werden unserer
heutigen Kulturlandschaft begleitet, unabhängig von ihrer Entstehungszeit und
ihrer Funktion.
Karl der Große führte etwa dreißig Jahre lang Krieg gegen „die Sachsen“. Das hat er
selbstverständlich nicht ganz allein zuwege gebracht; den ein oder anderen
Mitstreiter, der ihn begleitete, kann man nicht mit Sicherheit ausschließen.
Aus logistischen Gründen ließ er seine Streitkräfte in mehreren Gruppen auf
unterschiedlichen Wegen ins Feindesland marschieren. Einer seiner Stützpunkte
als Sammelplatz und Versorgungsbasis dürfte Köln gewesen sein, das sein Freund
Hildebold als erster Erzbischof regierte. Da von dort aus einer der kürzesten
Wege zur Hohensyburg an der Ruhr dem Verlauf der heutigen B 51 entspricht, wird
mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil von Karls fränkischen Truppen durch
Wermelskirchen marschiert sein und hier am Abend des ersten Marschtages Rast gemacht
haben.
Natürlich ließ Karl auch von seinen Wormser
und Ingelheimer Pfalzen aus durch die Wetterau und durch die Furt der Franken
in nordöstlicher Richtung marschieren, wie er bei solchen Zügen seine Pfalzen
zu Aachen, Nimwegen, Duisburg und Paderborn bevorzugt haben wird. Einmal soll
er jedoch vom Heerlager bei Düren in nur drei Tagen zur Hohensyburg geritten
sein. Weil die weiter nördlich gelegenen älteren Wege jeweils vier oder mehr
Tagesetappen umfassen, kann sich Karl nur einer von zwei möglichen Routen
bedient haben, nämlich entweder der kürzeren Heerstraße über Wermelskirchen
nach Schwelm, teilweise dem Straßenzug der heutigen B 51 folgend, oder der
„Heerweg“ genannten etwas längeren Verbindung über Bergisch Gladbach nach
Wipperfürth, die dem Verlauf der heutigen B 506 entspricht.
Übrigens war Karl eine Art gehobener
Raubmörder, der seine auch nicht ganz so
friedlichen Nachbarn überfiel, erschlug und ausplünderte; doch müssen in
diesem Atemzug auch die von ihm erlassenen Kapitularien, die Grafschafts-,
Bistums- und Königsbotenverfassung und seine diplomatischen Aktivitäten genannt
werden, mit deren Hilfe Karl „seinen“ Staat organisierte und deren Auswirkungen
bis auf den heutigen Tag faßbar sind.
Stand damals schon ein Haus am Markt,
Keimzelle und erste Gründung im späteren Ortskern ? Quelle und windgeschützte
Südexposition, beides bevorzugte Anlässe für Niederlassungen während der
fränkischen und sächsischen Expansion, sprechen für die Annahme, daß schon im
9. Jh., also einige Zeit vor der ersten Kirchenerrichtung, Menschen in
Wermelskirchen ihren Wohnsitz genommen haben. Die Errichtung der Kirche selbst
mag dafür als Beleg dienen, denn dies ist nur sinnvoll, wenn sich in der
Umgebung des Gotteshauses eine hinlänglich große Gemeinde befindet, die das
Haus zu errichten und den Pfarrer zu unterhalten gewillt und befähigt ist. Oder
soll man sich die Keimzelle unserer Stadt als Militärposten vorstellen ? Ein
fränkischer Anführer mit Namen Werinbold besetzt mit seinen Leuten die Quelle
an der Hüpp; er errichtet zwei Wachtürme, und zwar einen dort, wo sich heute
die evangelische Stadtkirche befindet, und einen zweiten am höchstgelegenen
Punkt in der Nähe der heutigen Stadtsparkasse an der Telegrafenstraße. Er hält
Pferde vor für Kuriere und sammelt Verpflegung für durchziehende Krieger. Nicht
unvorstellbar, aber durch nichts bewiesen.
Als zentraler Ort der spätkarolingischen
Landnahme war Wermelskirchen „geborener“ Vorort der sich entwickelnden
Herrschaft der bergischen Grafen und frühzeitiger Mittelpunkt des Amtes
Bornefeld, und ebenso früh wird auch der erste Güter- und Personenverkehr
anzusetzen sein mit dem Markt als erster Konsequenz, denn wo sich Menschen
treffen, da treiben sie auch Handel miteinander. Wenn wir das 500-jährige
Bestehen des Wermelskirchener Jahrmarktes feiern, so ist damit nur des bewiesenen,
urkundlich belegten Zeitrahmens gedacht; tatsächlich dürfte die Kirmes doppelt,
vielleicht sogar fast dreimal so alt sein, die Kir(ch)mes(se) verstanden als
das allwöchentliche Treffen zum Gottesdienst, zum Handel und zu allen möglichen
sozialen Zwecken.
Mobilität hat jedenfalls in Wermelskirchen
eine Tradition bis ins frühe Mittelalter. Ein Indiz dafür ist der Transport der
Reliquien des Heiligen Vitus vom französischen Kloster Corbie zur Abtei Corvey
an der Weser im Jahre 836. Ein anderes Indiz ist die Verlegung des
Herrschaftssitzes der Grafen von Berg von Burg Berghe/ Altenberg nach Schloß
Burg um das Jahr 1118 herum, wenn man annimmt, daß die Festung an der Wupper
neben anderem auch die Funktion der Überwachung der Fernstraße zwischen Köln
und Dortmund wahrnehmen sollte, nicht die Festung selbst, versteht sich,
sondern ihre „Belegschaft“. Aber da waren die ehemaligen brukterischen
Strauchdiebe und Wegelagerer, die von Eifgen- und Erzburg aus die Gegend unsicher
gemacht hatten, schon zivilisiert und christianisiert, hatten sich als Vögte
der Klöster Deutz, Werden und Siegburg bewährt und bereichert und waren vom
Kölner Erzbischof Anno II. für seinen 1059 gegründeten St. Georgs-Orden
gewonnen worden. Nach dieser sicher nicht unbeträchtlichen Grundlage des
Reichtums der Bergischen Grafen, dem Wegezoll, sollten jedoch auch andere
Quellen genannt werden, aus denen die hochmittelalterlich anscheinend überaus
bedeutenden Adligen der Region ihre Einnahmen schöpften, denn :
„Grundlage der
Macht der Grafen von Berg im Dekanat Deutz waren nicht eine legendäre
Gaugrafengewalt im „Deutzgau“. Die Machtgrundlagen des Geschlechtes entsprangen
überhaupt nicht einer einheitlichen Wurzel. Vielmehr basierte der Einfluß der
Grafen von Berg auf einer Vielzahl von Herrschaftsrechten, die sich konglomeratartig
zu einer Raumherrschaft zusammenfügten. Dazu gehörten die Verwaltung von
Regalrechten wie dem Wild- und Forstbann, Geleitsrechte an königlichen Straßen
ebenso wie die Münz- und Markthoheit, eigener Grundbesitz, niedere und hohe
Gerichtsbarkeit, Vogteirechte und nicht zuletzt auch Aufgaben der Landfriedenswahrung.“
Hinzu trat spätestens seit dem Jahr 1220 das
Bergregal; jedoch gibt es Denare mit der Aufschrift „Adolphus de Monte“, die in
die Zeit zwischen 1068 und 1080 datiert werden, und von Buchholzen ist ein Fund
von 172 Silbermünzen aus der Zeit des Kaisers Otto I. (936 – 972) bekannt, Silber,
das anscheinend noch nicht im Bergischen ergraben und geprägt wurde, sondern
wohl aus dem Rammelsberg im Harz stammt und das deshalb einen Beleg für die
Existenz eines Verkehres zwischen den Regionen liefert. Bergbau auf Eisen im Bergischen
ist archäologisch seit der Zeit der Merowinger nachweisbar; wenn Erzbischof
Heribert im Jahre 1003 seiner Deutzer Klostergründung den (Königs-) Hof samt
Eisenschmelze bei Rhade / Halver übereignen konnte, dann spricht dies wohl für
eine bescheidene Verbreitung des eisenverarbeitenden Gewerbes im Bergischen
Raum. Der Bergbau auf Silber, Kupfer und Blei erlebte nach Anfängen in
römischer Zeit eine Blüte im 12. und 13. Jh. bei Hennef, Rösrath,
Neunkirchen-Seelscheid und Wildbergerhütte, womit denn auch wenigstens in einem
Teilaspekt die Fragen beantwortet werden können, von welchem Geld, immerhin 15
Dezitonnen Silber, Graf Adolf
im Jahr 1160 die Burg Altena für seinen Sohn Graf Eberhard von Altena bezahlte,
wie dessen Bruder Graf Engelbert I. von Berg, genannt „der Reiche“, den
beachtlichen Gebietszuwachs seines Herrschaftsbereiches zwischen 1160 und 1189
finanzierte und wie es Engelberts Sohn, Erzbischof Engelbert I. von Köln,
fertigbrachte, innerhalb der wenigen Jahre seines Regimentes die beträchtlichen
Schulden seiner Vorgänger zu begleichen.
Die letzteren beiden starben übrigens „in den
Stiefeln“ : Der Vater kam im Juli 1189 während des dritten Kreuzzuges bei
Brancevo in Serbien an einer Seuche ums Leben; nach anderer Lesart wurde er
wegen seiner prächtigen Rüstung erschlagen und ausgeraubt. Der Sohn wurde am 7.
November 1225 bei Gevelsberg von den Leuten seines Vetters Friedrich von
Isenburg erschlagen. Seine sterbliche Hülle wurde dann streckenweise gewiß auch
auf der Trasse der heutigen B 51 durch Wermelskirchen zuerst nach Schloß Burg,
zum Kloster Altenberg und schließlich nach Köln transportiert.
Die Zeit, die diese Bergischen Fürsten sahen
und in der sie als Weggefährten der Kaiser Friedrich erscheinen : Graf Adolf
erwirkt bei Friedrich I. Barbarossa die Einsetzung seines Sohnes Friedrich als
Erzbischof von Köln, Graf Engelbert begleitet ihn auf seinem Zug ins Heilige
Land, Erzbischof Engelbert erzieht den Sohn Friedrichs II. „wie seinen
eigenen“, die Stauferzeit also verdient auch in Bezug auf Wermelskirchen einer
tiefergreifenden Würdigung, muß sie doch als eine Blütezeit Mitteleuropas
angesehen werden. Als Indizien dafür seien Binnen- und Ostkolonisation genannt,
die Gründung, Berechtung und Selbstverwaltung vieler Städte und die Ausbildung
der Kaufmanns- und später Städtehanse mit dem hilligen Köln in altgewohnter
Vorreiterrolle, an der die Städte Lennep, Solingen und Wipperfürth teilhatten.
Erkennbar wird ein beachtliches Bevölkerungswachstum; im Gebiet des heutigen
(2005) Deutschland soll die Zahl der Menschen von ungefähr 3 Mill. im 11. Jh.
auf 8 Mill. im 12. Jh. gestiegen sein.
Dies geschah allen Widerwärtigkeiten zum Trotz : Nur vier von fünf
Neugeborenen wurden älter als ein Jahr; die durchschnittliche Lebenserwartung
erreichte kaum dreißig Jahre, verursacht durch die hohe Säuglingssterblichkeit,
aber auch durch die erbärmlichen hygienischen Bedingungen, die jede Geburt,
jede handwerkliche oder kriegerische Verletzung zu einem lebensbedrohenden
Infektionsrisiko werden ließen. Aus
der Zeit des Erzbischofs Heribert anfangs des 11. Jh. werden mehrere aufeinanderfolgende
Mißernten und Hungersnöte gemeldet, wobei es u.a. auch durch Verseuchung des
Brotroggens mit dem Mutterkornpilz Secale cornutum zu zahlreichen Todesfällen
gekommen ist, was übrigens heute noch vielen Menschen einen Schauder vor
Schwarzbrot einjagt und für die weite Verbreitung von weißem Weizenbrot, aber
nicht von Schwarzbrot in ganz Europa gesorgt hat. 1038 brachte das Heer Kaiser
Konrads II. eine Seuche aus Italien nach Bayern. 1090 wütete die Pest in Magdeburg,
vermutlich von Rußland her eingeschleppt. 1100 brachten heimkehrende
Kreuzfahrer die Beulenpest nach Deutschland. 1106 mußte König Heinrich V. die
Belagerung von Köln abbrechen, weil sich in seinem Heer Hunger und Seuchen
ausbreiteten. Im August des Jahres 1167 starb mit dem Kölner Erzbischof Reinald
von Dassel der größte Teil des deutschen Heeres in Rom an Malaria, Typhus und /
oder Ruhr. Die letzten Jahre des Abtes Goswin von Altenberg Ende des 12. Jh. wurden
getrübt durch die im ganzen Rheingebiet mehrere Jahre hintereinander eingetretenen
Mißernten, die eine schlimme Hungersnot zur Folge hatten.
Was hat denn trotzdem diese gewaltige
„Bevölkerungsexplosion“ ausgelöst ?
Zumindest kann das Wetter nicht ständig
schlecht gewesen sein, sondern es ließ wohl überwiegend einen mehr als
ausreichenden Nahrungserwerb in Form der landwirtschaftlichen Erträge zu. Wenn
die Epoche vom späten Mittelalter, vom 14. Jh. an bis zur Industriellen
Revolution im 19. Jh. als „Kleine Eiszeit“ angesprochen wird, so mag dies als
ein Indiz sowohl für die voraufgehende als auch für die folgende relative Gunst
des Klimas angesehen werden, die mittelalterlichen Weinbau bis an die Nordsee
zuließ. Aber die Landwirtschaft selbst erlebte im hohen Mittelalter einen Umbruch,
an dem Mönche und Nonnen und vor allem die Altenberger Zisterzienser als
Ausbilder einigen Anteil hatten. Obst-, Gemüse- und Kräuteranbau und die Schaf-
und Bienenzucht verbreiteten sich, orientiert am Vorbild klösterlicher
Musterbetriebe. So verschafften sich die Menschen neben Jagd, Getreidebau und
Viehzucht weitere Nahrungsquellen, stellten ihre Lebensmittelversorgung auf
eine breitere, etwas krisensicherere Grundlage, ebenso ein Baustein im Kampf
gegen den Hungertod wie die Teichwirtschaft und die Erschließung nährstoffreicher
Auenböden mit Hilfe des eisernen Pfluges, vor dem man mehr und mehr die Ochsen
durch Pferde ersetzte.
Auch sollte die Kogge nicht unterschätzt
werden, die 50 Tonnen Getreide aus Danzig oder Hering von Schonen in die
kölschen Speicher transportieren konnte und die von den Hungrigen bestimmt
begeistert begrüßt wurde. Am hansischen Landtransport war das Wermelskirchener
Kaufmanns- und Fuhrgewerbe beträchtlich beteiligt, ein Beleg für den
beachtlichen Warenumschlag zwischen Köln und Dortmund, der nicht geringer
geworden zu sein scheint, wie man auf der Bundesautobahn A 1 von der
Kaltenherberger Brücke aus beobachten kann, aber auch auf ihrer lebhaften
„Begleiterin“. Und wenn man dann in den Urkunden einem Lübecker Ratsherrn und Großhandelskaufmann
mit dem Namen Heinrich Wermeskerken begegnet, dann läßt sich daraus wohl der
Schluß ziehen, daß der eine oder andere „Dellmann“ mit dem Hansehandel seine
Brötchen verdient hat.
Die Mensch, Tier und Gefährt aufs Äußerste
beanspruchenden Berg- und Talfahrten bewältigte man mit fremder Hilfe, etwa um
den heute Hückeswagen (Hoekeshoven) genannten Hakenhof herum, wo man
Spanndienste leistete und das Gespann „auf den Haken“ nahm. Nicht bekannt ist,
ob es sich dabei um Schirrhaken für das Vorspannen von Zugtieren oder um
Fleischerhaken anläßlich von Notschlachtungen gehandelt hat und ob solche Haken
am Ort angefertigt wurden; die Reste des Ringwalles Oberburghof und die dort
anzutreffenden Pingenfelder, in denen man Eisenerz ergrub, lassen den Schluß
zu, daß Vorläufer der neuzeitlichen Bergischen Eisen-, Stahl- und Werkzeugindustrie
an der Quelle der Dhünn fleißig gearbeitet haben, aber selbstverständlich nicht
nur dort.
Diese Interpretation des Namens Hückeswagen
beruht nicht zuletzt auf den topographischen Gegebenheiten, wie man sie auch
heute noch unschwer zwischen Kammerforsterhöhe und Bergerhof erkennen kann.
Möglich wäre auch eine andere Deutung. Das Wort „Haken“ wurde nämlich besonders
in den Akten des Deutschen Ordens als Flächenmaß verwendet, etwa
gleichbedeutend mit Hufe einen Bauernhof bezeichnend.
Auch politische
Ursachen wollen genannt sein, etwa der 1083 von Erzbischof Sigewin von Köln
ausgerufene Gottesfrieden, in dem das Führen von Waffen an Markt- und Feiertagen
verboten wurde und der, weil sich König und Fürsten anschlossen, die Straßen
sicherer machte und verhinderte, daß Preisverhandlungen mit dem Schwert geführt
und Kaufverträge mit Menschenblut unterschrieben wurden. Mit den Marktordnungen
wuchs daraus der Kaufmannsbrauch als geltendes Recht. Wenn die Nachrichten
nicht trügen, so gab es schon 900 Jahre vor den Protesten gegen Irak- und Vietnamkrieg
und gegen die Stationierung von Atomraketen eine machtvolle und erfolgreiche,
vom größten Teil der Bevölkerung getragene Friedensbewegung. Nicht anders zu
deuten sind wohl auch die 200 Jahre später zu datierenden Landwehren, mit denen
die Menschen ihre Siedlungen einfriedeten und die am Kötters Knapp wie an
anderen Stellen beschränkten Durchlaß gewährten, wohl nicht zuletzt und mal wieder
gegen entsprechenden Wegezoll.
Daneben fand die
Struktur der feudalen Territorialstaaten ihre Ausbildung und kam gerade mit
Erzbischof Engelbert I. zu einem gewissen Abschluß, wie sich wohl die 1220
zwischen Kaiser und Kirchenfürsten geschlossene „confoederatio cum principibus
ecclesiasticis“ interpretieren läßt, in welcher Urkunde der Übergang fast aller
königlichen Rechte auf die erstmals so genannten Landesherren festgeschrieben
ist und auf die die föderale Organisation Deutschlands in Bundesländer
letztlich zurückzuführen ist, wer nämlich allein und ausschließlich berechtigt
ist, über die Einhaltung der öffentlichen Ordnung zu wachen. Seitdem gab es
wohl, wenn nicht gar in heidnische Zeit zurückreichend, die Gerichtseiche „op
dr Eek“ und den Galgenplatz am Schwanen, wobei die Mode des Hängens wohl barbarisch,
aber nicht unbedingt heidnisch genannt zu werden verdient.
Da hinein gehört
denn auch der Ausbau einer Art Telekommunikation mit Hilfe von Glocken,
Hörnern, Trommeln und Signalfeuern und den dazu benötigten steinernen
Türmen - hölzerne waren nicht stabil genug und feuergefährdet, außerdem
klingen Glocken in steinernen Resonanzräumen intensiver -, mit deren Hilfe die Nachbarschaft
unterrichtet werden konnte, ob Feinde im Anmarsch waren oder sonstwie Besuch
oder Kundschaft drohte, ob jemand gestorben war oder ob Hans und Grete Hochzeit
hielten und, daß es Zeit wurde, sich beim Kirchweg zu sputen, was also gerade
die Glocke geschlagen hatte.
Und da hinein
gehört schließlich die Ausbildung eines pädagogischen Systems durch den
klösterlichen Unterricht in den jeweils für notwendig gehaltenen Fächern, besonders
auch im Fach Nächstenliebe und Verantwortung. Gewiß haben die meisten, im
Mittelalter zumeist adligen Geistlichen Frieden gepredigt; sie haben ihr Wort
nicht immer gehalten wie etwa der Kölner Erzbischof Siegfried von Westerburg,
der am 5. Juni 1288 bei Worringen um die Vorherrschaft im
rheinisch-westfälischen Raum focht und, da unterlegen, 13 Monate in Schloß Burg
gefangen war bis zur Zahlung eines Lösegeldes, der Historie nach besiegt durch
die Bergischen Bauern mit dem Solinger Mönch Walter Dodde an der Spitze. Der
Walter war wohl auch kein Oberpazifist, der kein Blut sehen konnte.
Vermutlich waren
auch einige hundert Männer, schätzungsweise drei Hundertschaften aus
Wermelskirchen an der Schlägerei beteiligt, und obwohl sie allem Anschein nach
zuerst die Hosen voll hatten und vor dem kurkölnischen Militär weggelaufen sind
wie die Hasen, haben sie sich wohl doch noch überreden lassen, zusammen mit den
Kölner Bürgern, die um ihre Unabhängigkeit vom Stadtherrn stritten, in die
Schlacht zu ziehen und so die Entscheidung zugunsten des Grafen Adolf V. von
Berg und seiner brabantinischen und märkischen Mitstreiter herbeizuführen. Die
Söhne dankten das ihren Vätern gegebene Recht, und es gab genug Söhne, die diesen
Dank mit Hilfe von Eisenstangen und Sensen, Schmiedehämmern und Dreschflegeln
abstatten konnten. Aus späterer Zeit, aus dem 14. Jh. gibt es eine Nachricht
aus dem Salzkammergut, der zufolge den Schmieden bei Todesstrafe verboten war,
Sensen zu Spießen zuzurichten. Die Bergischen Bauern wird dies im Juli 1288
nicht bekümmert haben, zumal die Blätter nur umgebunden werden mußten. Sie
wußten zumindest, daß nach ihrem Willen Werkzeuge als Waffen, Waffen als Werkzeuge
benutzt werden konnten.
Über die
Beteiligung von Frauen an der Worringer Schlacht vermelden die Annalen nichts;
ich glaube aber nicht, daß sie keinen Anteil nahmen, denn irgend jemand wird
die Kombattanten mit Speis und Trank und anderem leiblichem Wohlgefallen versorgt
haben. Es gibt aus späterer Zeit ein mich faszinierendes Bild im Gräfrather
Klingenmuseum, das einen Landsknecht zeigt, sein Mädel an der Hand, die trägt eine
Flinte auf der Schulter und ein Kind im Bauch. Das wird vermutlich ein paar hundert
Jahre vorher auch nicht anders gewesen sein, bevor das Schießpulver erfunden
war, das bis zum ersten Weltkrieg im Eifgental gemahlen und gemischt wurde, bis
dies die alliierten Siegermächte im Versailler Vertrag unterbanden.
Das Lob der
Bergischen Bauern sei korrekterweise ergänzt durch die offenbare Tatsache, daß
die übrigen Truppen der Allianz zum wenigsten ihrem Gegenüber standhielten und
letztlich mehr Menschen totschlugen, verprügelten, gefangennahmen, vertrieben
oder sonst unschädlich machten, als sie eigene Verluste erlitten, insgesamt
also Überlegenheit erkämpften. Bruder Wilhelm des Grafen Adolf V. bedankte sich
bei seinen bergischen Droppschlägern, indem er ein Jahr nach seinem Regierungsantritt
1296 die Leibeigenschaft ein für allemal aufhob; die Raufbolde wären ja sowieso
nicht zu bändigen gewesen, die, wie schon gesagt, nicht zuletzt als Vorkehrung
gegen feindliche Überfälle und Plünderungen, aber auch, um ihr Viehzeug daran
zu hindern, in die Irre zu gehen, ihre Siedlungen nach alter Gewohnheit mit
Hilfe von Weißdorn und Brombeeren eingehegt hatten. Da war dann die Straße
sicherer und friedlicher, aber, wie noch heute jede Kraftfahrzeugsteuerabrechnung
beweisen und jede Speisekarte an jedem beliebigen Wirtshaus belegen mag :
Nicht
gerade billiger geworden !
Berge
roemrik
geschrieben
von Richard Kranz, Ellinghausen, den 15. März 2005
|